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„Wir brauchen eine nachdenkliche Gesellschaft“

Ein Gespräch mit Heike Zirden über die Aktion Mensch.

Am 1. März 2000 wurde aus der „Deutschen Behindertenhilfe – Aktion Sorgenkind“ die „Aktion Mensch„. Der damalige ZDF-Intendant und Vorsitzende der Aktion Mensch, Dieter Stolte, gab die Namensänderung in der Sendung „Wetten, dass ..?“ offiziell bekannt und begründete sie: „Wer etwas verändern will, muss bei sich selbst anfangen. Sich als Menschen zu begegnen, heißt, sich auf derselben Augenhöhe zu begegnen.“

Heike Zirden, Leiterin der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit und Aufklärung der Aktion Mensch, berichtet über den Imagewandel und die aktuellen PR-Strategien ihrer Organisation. Das Interview führten Petra Wiener und Annette Weber. (Dieses Interview ist im „MAINual-Handbuch Barrierefreie Öffentlichkeit“ erschienen. Sie können das Handbuch hier bestellen.)

Zwischen den Begriffen „Sorgenkind“ und „Mensch“ liegen von den Assoziationen her Welten. Wie kam es zu diesem grundlegenden Wandel?

Die Namensänderung war das Ergebnis eines mehrjährigen Veränderungsprozesses innerhalb der Aktion Sorgenkind, aber auch der Gesellschaft in Deutschland insgesamt. In den Jahren davor mussten wir immer häufiger erklären: Wir heißen zwar so – aber eigentlich sind wir ganz anders.

Der Name „Aktion Sorgenkind“ geriet seit Anfang der 1980er Jahre zunehmend unter Kritik, obwohl die Imagewerte der Organisation in der Öffentlichkeit traumhafte Werte erreichten. Diese Kritik kam von außen, aber auch von innen aus der Aktion selbst, denn die Arbeit der „Aktion Sorgenkind“ – etwa in der Förderpolitik – hatte sich von dem Bild, das dieser Name evoziert, immer weiter entfernt.

Der Begriff „Sorgenkind“ war zwar ursprünglich nicht diskriminierend gemeint, wurde aber zu Recht immer stärker als bevormundend und mitleidsorientiert empfunden und geriet damit in Widerspruch zur Entwicklung der Behindertenbewegung und -politik in Richtung Integration, Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung.

Das war nicht nur ein theoretischer Widerspruch, sondern dieses „Etikett“ hat Biographien geprägt und Menschen von ihrer Geburt bis zum Erwachsenwerden immer wieder auf dieses fremdbestimmte Bild des „Sorgenkindes“ reduziert. Das war für viele Betroffene ein großes Problem für ihr Selbstverständnis, für die Fähigkeit, überhaupt eine positive Identität entwickeln zu können.

Es ist aber auch ein gesellschaftliches Problem, weil ein solches kollektives Bild wie das „Sorgenkind“, das ja außerordentlich suggestiv und wirkungsmächtig ist, eben auch die öffentliche und politische Wahrnehmung beeinflusst und den Spielraum für unser gemeinsames Verständnis von Behinderung und unsere Handlungsoptionen als Gesellschaft einschränken kann.

Eine Organisation wie die unsere, die in der Öffentlichkeit derart präsent ist, dass sie das Bild von Menschen mit Behinderungen in der Wahrnehmung von breiten Bevölkerungskreisen prägen kann, trägt eine besondere Verantwortung für das, was sie an Inhalten und an Bildern kommuniziert. Durch unsere politischen Aktivitäten hatten wir auch sehr starke inhaltliche Diskussionen mit den Behindertenverbänden über den Namen der Aktion, und schließlich war klar, dass der alte Name nicht mehr zeitgemäß sein konnte.

Die Namensänderung war sozusagen vorprogrammiert?

Nein, vorprogrammiert war sie deswegen noch nicht. Dieser Punkt, dass man über die eigene Organisation hinaus eine Verantwortung hat für das, was man zeigt und mit seiner Kommunikation bewirkt, das war ein über längere Zeit fortschreitender Erkenntnisprozess.

Inhaltlich war unsere Förderpolitik eigentlich schon seit Jahren weiter und hat z.B. längst viele innovative und moderne Projekte gefördert, nur hat die Kommunikation der Aktion das eben nicht vermittelt.

Die größten Bedenken hatten viele Beteiligte, weil der Name „Aktion Sorgenkind“ so gut eingeführt war und als Marke so große Bekanntheits- und Sympathiewerte erreichte, dass ein Namenswechsel auch ein wirtschaftliches Risiko hätte bedeuten können.

Der Namenswechsel hat dann aber sehr breit und schnell Akzeptanz gefunden, weil es eben eine echte inhaltliche Änderung war, weil klar wurde: Da stehen Inhalte dahinter. Und heute stoßen wir in allen Diskussionen darauf, dass die Menschen die Namensänderung generell sehr positiv sehen – auch weil viele mittlerweile froh und dankbar sind, wenn es einmal um Inhalte geht.

In Österreich ist der Zwiespalt sehr frappant, einerseits Spenden lukrieren und andererseits nicht das „Arme-Hascherl“-Bild verbreiten zu wollen. Wie würden Sie diesen Widerspruch lösen?

Ich glaube, dass Spenden sammelnde Organisationen einen klaren Unterschied machen müssen zwischen gesellschaftlichen oder politischen Aussagen und Zielen einerseits und der Spendensammlung andererseits. Zum Ersten, damit deutlich wird, dass sie neben dem „Fundraising“ auch ein öffentliches Anliegen haben.

Der zweite Punkt ist, dass ich nicht glaube, dass man Menschen nur über das Mitleid dauerhaft erreichen kann. Und drittens finde ich es äußerst wichtig, dieses Thema Behinderung in einen völlig anderen Kontext zu setzen – dass man es aus dem Umkreis der Wohlfahrt und der Fürsorge rausholt und seinen Anspruch deutlich macht, dass es ein politisches Thema ist, das etwas mit Rechten zu tun hat: mit Bürgerrechten, Menschenrechten usw.

Das lässt sich nur durch eine langfristige und nachhaltig angelegte Kommunikation erreichen, nicht durch eine, die auf kurzfristige Erfolge bei der Steigerung von Spendenerträgen zielt. Wenn das deutlich wird, dann wird umgekehrt auch deutlich, warum Mitleidskampagnen eine diskriminierende Haltung aufweisen.

Wie funktioniert die Öffentlichkeitsarbeit der Aktion Mensch?

Wir unterscheiden sehr genau, wo wir welche Form von Kommunikation machen. Bei der Öffentlichkeitsarbeit und im Marketing steht im Vordergrund der üblichen Kommunikationsmaßnahmen die Aktion Mensch selbst: als Lotterieveranstalter, als Förderinstitution usw. Unser anderes großes Tätigkeitsfeld ist die Aufklärungsarbeit. Sie arbeitet zwar im Prinzip mit denselben Instrumenten, aber auf eine andere Weise: Bei ihr stehen die Themen im Vordergrund.

In diesem Bereich tritt die Aktion Mensch hinter die Themen zurück und ist eigentlich nur der Absender. Und das unterscheiden wir sehr genau, wann wir die Aktion Mensch inszenieren und wann wir Themen vermitteln.

Ist Bewusstseinsbildung das erklärte Ziel Ihrer Aufklärungsarbeit?

Selbstverständlich. Es gibt natürlich viele gesellschaftliche Bereiche, wo einfach auf der Gesetzesebene noch sehr viel getan werden muss. Aber gerade bei vielen Neuregelungen, die derzeit diskutiert werden, geht es zuallererst um soziale, politische oder ethische Vorentscheidungen, zu denen die Betroffenen und die Aktion Mensch Wichtiges beizutragen haben.

Bei uns läuft gerade die Aktion Grundgesetz, die angesichts der Sozialreformdebatten in Deutschland zu zeigen versucht, dass Menschen mit Behinderungen und ihre Verbände nicht gegen Reformen sind, aber daran beteiligt werden müssen, weil sie natürlich die ExpertInnen sind und auf die Zukunftsfähigkeit der Reformen angewiesen sind. Es ist nicht in ihrem Interesse, dass irgendwann der Staat bankrott ist, aber sie möchten mitarbeiten und als ExpertenInnen wahrgenommen werden.

Ein zweiter großer Bereich ist das 1000-Fragen-Projekt zum Thema Bioethik, wo wir sagen: Wir brauchen eine nachdenkliche Gesellschaft, die sich gemeinsam der Grundlagen vergewissert, auf denen sozialpolitische oder ethische Entscheidungen getroffen werden. Bei diesen Themen gibt es keine einfachen Wahrheiten, und daher versuchen wir, ein offenes Gespräch zu initiieren.

Beim 1000-Fragen-Projekt haben wir deshalb eine Internet-Plattform etabliert, auf der inzwischen tausende Menschen mitdiskutieren. Man merkt da übrigens sehr deutlich, ob die Leute Menschen mit Behinderungen kennen oder nicht, ob sie ihnen begegnen oder nicht. Und dafür müssen wir sorgen, dass diese Begegnungen stattfinden können.

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