Wie barrierefrei müssen elektronische Behördenverfahren sein?

Derzeit ist ein Gesetzesentwurf des Bundeskanzleramtes in Begutachtung, mit dem ein e-Government-Gesetz erlassen werden soll und in dem Änderungen im Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetz, dem Zustellgesetz und dem Gebührengesetz vorgesehen sind.

Accessibility
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Stellen Sie sich vor, Sie bringen Ihren Antrag auf Pflegegeld, Ihren Pensionsantrag, Ihren Antrag auf eine Maßnahme der Behindertenhilfe, Ihren Antrag auf einen Behindertenpass, Ihren Antrag auf Aufnahme in den Kreis der „begünstigten Behinderten“ etc. elektronisch mittels eines Antragsformulars im Internet ein.

Stellen Sie sich vor, Sie haben eine sogenannte Bürgerkarte – also eine Chipkarte – die Sie einfach in ein Chipkartenlesegerät stecken, das Sie z. B. zuhause an Ihrem PC angeschlossen haben, und schon können Sie damit Ihre Identität nachweisen und durch elektronische Signatur nachweisen, dass das, was Sie veranlasst haben – z. B. die Beantragung einer Leistung oder die Zurückziehung eines Antrages … – auch tatsächlich Ihr Wille als berechtigte Person ist (sogenannte Authentifizierung).

Stellen Sie sich weiters vor, Sie können über Internet abrufen, wie Ihr persönliches Behördenverfahren abläuft, auf welchem Verfahrensstand es gerade ist, Sie können die gesamten Akteninhalte elektronisch abrufen und downloaden; ja Sie können sogar mit einem elektronischen Formular im Internet eine andere Person als Ihren Vertreter bevollmächtigen.

Stellen Sie ferner sich vor, Sie müssen die Standarddokumente, wie z. B. Staatsbürgerschaftsnachweis, Meldezettel, Geburts- oder Heiratsurkunde, nicht mehr selbst der Behörde vorlegen, sondern diese Dokumente sind in einem elektronischen Standarddokumentenregister von der jeweiligen Behörde selbständig jederzeit abrufbar, sofern diese Dokumente für das Verfahren erforderlich sind.

Und nun stellen Sie sich zu guter letzt vor, Sie erhalten per Email von einem elektronischen Zustelldienst eine Verständigung, dass Sie sich Ihren Bescheid oder Ihre Mitteilung elektronisch auf der Homepage der Behörde abholen können und genau in dem Zeitpunkt, in dem Sie dieses Dokument anklicken oder downloaden erhält die Behörde elektronisch einen Nachweis, dass Sie das Dokument erhalten haben (Zustellnachweis); von da an läuft auch eine etwaige Frist für ein Rechtsmittel – z. B. Berufung, Vorstellung, Klage …

Sie halten das für eine bloße Utopie?

Aber das und vieles mehr regelt das e-Governmentgesetz (e-GovG) und die Änderungsvorschläge zum Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetz (AVG), dem Zustellgesetz (ZustG) und dem Gebührengesetz; In Hinkunft sollen demnach behördliche Verfahren primär elektronisch durchgeführt werden, und zwar von der Antragstellung über das Ermittlungsverfahren bis zur behördlichen Entscheidung; man spricht von sogenannten elektronischen Aktenverwaltungssystemen. In dem Gesetzesvorschlag des Bundeskanzleramtes geht es einerseits um die elektronische Kommunikation zwischen den Behörden und andererseits um die elektronische Kommunikation des Bürgers mit einer Behörde. Kernstück der elektronischen Kommunikation des Bürgers mit der Behörde soll dabei die sogenannte Bürgerkarte – eine Chipkarte – sein, auf der der Identitätsnachweis und die elektronische Unterschrift zur Authentifizierung Ihrer Willenserklärungen mittels einer sogenannten Stammzahl gespeichert sind. Ja und diese Bürgerkarte soll, geht es nach dem Willen des Gesetzgebers, auch im elektronischen Verkehr mit privaten Unternehmen eingesetzt werden können, z. B. beim Einkaufen im Internet.

Dieser Gesetzesentwurf ist noch bis zum 15. September 2003 in Begutachtung und kann samt allfälliger Stellungnahmen dazu auf der Website des Parlaments abgerufen werden.

Aus diesem Anlass hat sich der Verein Blickkontakt – Interessensgemeinschaft sehender, sehbehinderter und blinder Menschen – diesen Gesetzesvorschlag genauer angesehen und geprüft, inwieweit hier auf die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen entsprechend Rücksicht genommen wurde. Der diesbezüglichen Stellungnahme des Vereines Blickkontakt im Begutachtungsverfahren vom 20. August 2003läßt sich entnehmen, dass dabei vor allem folgendes auffällt:

  • Grundsätzlich kann die Möglichkeit, ein behördliches Verfahren vollkommen elektronisch durchführen zu können, gerade für Menschen mit Behinderungen und insbesondere für sehbehinderte und blinde Menschen ein Schritt zu mehr selbstbestimmtem Leben sein. Das allerdings nur, wenn die Erfordernisse für eine barrierefreie Zugänglichkeit und Benützbarkeit dieser elektronischen Medien für Menschen mit Behinderungen entsprechend berücksichtigt werden.

    Im Vorblatt zu dem Gesetzesentwurf heißt es diesbezüglich unter der Überschrift „Verhältnis zu Rechtsvorschriften der Europäischen Union“: „Das Gesetzesziel entspricht jedoch voll der von der Europäischen Union mit hoher Priorität verfolgten eEurope-Initiative …“

    So weit so gut, doch was heißt das für Menschen mit Behinderungen?

    Die Initiative eEurope wurde ja bereits im Dezember 1999 von der Europäischen Kommission präsentiert; mit ihrer Hilfe sollten die Vorteile der Informationsgesellschaft allen Europäern zu Gute kommen. Der eEurope 2002 Aktionsplan legte weiters ein Konzept vor, mit dem die Ziele von eEurope erreicht werden können.

    Ein Teil der Initiative eEurope ist auch die sogenannte „e-accessibility“, wodurch eEurope verschiedene Aktionen zur Förderung von „Design für alle“-Ansätzen und die Verabschiedung der Richtlinien der Web Accessibility Initiative für öffentliche Webangebote vorschlägt. Diese Initiative zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen geht nicht zuletzt auf das mit dem Vertrag von Amsterdam geschaffene Diskriminierungsverbot für Menschen mit Behinderungen in Art. 13 zurück. In Übereinstimmung mit dem e-Europe 2002 Aktionsplan wurde in Art. 225 des EU-Vertrages unter der Überschrift „Zugang zu Informationen“ nachstehende Bestimmung aufgenommen: „Jeder Unionsbürger sowie jede natürliche Person mit Wohnsitz oder Sitz in einem Mitgliedsstaat hat das Recht auf Zugang zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission.“

    Im März und November 2002 fasste der Rat der Europäischen Union dann noch zwei Entschließungen betreffend den Zugang von Menschen mit Behinderungen zu öffentlichen Websites und ihren Inhalten sowie zur Wissensgesellschaft. Erste Strategien zur Umsetzung der WAI-Kriterien in Österreich wurden ebenfalls bereits entwickelt, deren Stand in einem Umsetzungsbericht vom Juni 2002 dokumentiert ist.

    Diese Ziele des eEurope 2002 Aktionsplanes einschließlich der e-Accessibility hätte auch Österreich innerstaatlich umzusetzen.

    Nun, nach genauer Durchsicht des Ministerialentwurfes muss leider festgehalten werden, dass weder der Gesetzesentwurf noch die Erläuterungen auf die Einhaltung von bereits bestehenden Accessibility-Kriterien (z. B. WAI-Kriterien) betreffend den Zugang zu elektronischen Medien bzw. deren Benützbarkeit durch Menschen mit Behinderungen hinweist.

    Im Sinne des in Art. 7 Abs. 1 vierter Satz der Bundesverfassung (B-VG) enthaltenen verfassungsrechtlichen Bekenntnisses der Republik Österreich zur Gleichbehandlung von behinderten und nichtbehinderten Menschen in allen Bereichen des täglichen Lebens und des eEurope 2002 Aktionsplanes, ist es aber aus der Sicht des Vereines Blickkontakt unerlässlich, die verbindliche Einhaltung dieser Accessibility-Standards für die elektronischen Aktenverwaltungssysteme ausdrücklich vorzuschreiben; andernfalls wäre die chancengleiche berufliche Integration von Menschen mit Behinderungen im öffentlichen Dienst – z. B. mangels chancengleicher Benützbarkeit des sogenannten elektronischen Aktes – und auch die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in behördlichen Verfahren ernsthaft gefährdet.

  • Insbesondere gilt das aber auch für die Handhabung elektronischer Formulare. In den Erläuterungen zu § 5 e-GovG heißt es u.a. auch: „Im Rahmen der zu veröffentlichenden technischen Randbedingungen der Bürgerkartenfunktion werden auch die für die elektronische Vollmachterteilung notwendigen Web-Formulare zur Verfügung gestellt werden.“ In den Erläuterungen wird ferner auf die über das Portal „help.gv.at“ abrufbaren Web-Formulare als Instrumente elektronischer Antragstellungen verwiesen.

    Auch allfällige elektronische Formulare – z. B. Antrags- und Bevollmächtigungsformulare – müssen zwingend den Accessibility-Kriterien für Menschen mit Behinderungen (WAI) entsprechen, was, wie die Erfahrung zeigt, bislang noch keine Selbstverständlichkeit ist.

  • In den Erläuterungen zu § 5 e-GovG findet sich ferner folgender Satz:

    „Wenn der Vollmachtgeber mangels Geschäftsfähigkeit oder Besitz einer Bürgerkarte eine elektronische Vollmacht nicht erteilen kann, können Gerichte oder Notare das Bestehen eines Vollmachtsverhältnisses elektronisch beurkunden und diese Beurkundung auf der Bürgerkarte eintragen.“

    nun, der Entwurf sagt nichts dazu, ob diese Beurkundung kostenlos oder kostenpflichtig ist; deshalb wäre noch ein ausdrücklicher Hinweis aufzunehmen, dass bei geschäftsunfähigen Personen keine Mehrkosten im Vergleich zu Personen, die zum Gebrauch einer Bürgerkarte befugt sind, entstehen darf, da ansonsten eine Benachteiligung allein aufgrund der Geschäftsunfähigkeit entstünde, was bei Geschäftsunfähigkeit infolge einer Behinderung im Hinblick auf Art. 7 Abs. 1 dritter Satz B-VG – Benachteiligungsverbot für behinderte Menschen – bedenklich erschiene.

  • In diesem Zusammenhang muss auch die spezifische Situation sehbehinderter und blinder Menschen angesprochen werden, da die Bürgerkarte künftig ja nicht nur für den Nachweis der Identität und die Authentifizierung der getroffenen Willenserklärungen in behördlichen Verfahren gelten soll, sondern auch bei privatwirtschaftlichen Geschäften im elektronischen Weg, z. B. ein Kaufgeschäft im Internet. In diesem Zusammenhang könnte das Notariatsaktsgesetz, das für schriftliche Rechtsgeschäfte von blinden Menschen die Einhaltung einer bestimmten vom Notar zu errichtenden Urkunde bei sonstiger Ungültigkeit des Rechtsgeschäftes vorsieht, zu einem ernstzunehmenden Problem werden. Eines muss jedoch klar gesagt werden: Diese „Schutznorm“ aus der Monarchie darf nicht dazu führen, dass blinden Menschen unter Umständen keine Bürgerkarte ausgestellt wird oder nur eine stark eingeschränkte Bürgerkartenfunktion zur Verfügung gestellt wird.
  • § 18a des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes regelt die Mitteilungen einer Behörde gegenüber einem Verfahrensbeteiligten. Dabei sieht der Gesetzesentwurf die Pflicht der Behörde zur „Auswahl jener an sich geeigneten Kommunikationsmöglichkeit, die insgesamt den geringsten Aufwand verursacht“ vor, wobei „bei der Beurteilung des Aufwands auch der beim Adressaten der Mitteilung verursachte Aufwand in die Betrachtung miteinzubeziehen ist“. Und dann heißt es in den Erläuterungen dazu noch: „Schon aus § 18a Abs. 1 AVG ergibt sich, dass der Empfänger keinen subjektiven Rechtsanspruch auf die Übermittlung von Mitteilungen der Behörde in einer bestimmten Form hat; dies gilt sowohl für die Frage, ob die bloße Zusendung genügt oder eine Zustellung erforderlich ist, als auch hinsichtlich der unterschiedlichen Arten der Zustellung.“

    Natürlich muss die Behörde entscheiden, ob eine Mitteilung so wichtig ist, dass sie mit Zustellnachweis förmlich zuzustellen ist oder auch einfach ganz gewöhnlich – wie ein Brief – zugesendet werden kann. Damit aber die chancengleiche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen an behördlichen Verfahren gewährleistet wird, muss auch ein subjektives Recht von Menschen mit Behinderungen auf die Wahl einer bestimmten Art der Zustellung, z. B. elektronische Zustellung eines Bescheides, eingeräumt werden. Dieses Auswahlrecht muss aber auch für einfache Mitteilungen einer Behörde gelten, die nicht derart förmlich – etwa mit Zustellnachweis – zugestellt werden müssen, sondern einfach zugesendet werden können; in diesen Fällen muss die Behörde ebenfalls auf Verlangen des Beteiligten verpflichtet sein, die Mitteilung z. B. per Email oder auf Diskette zuzusenden.

    Ein solches gesetzlich geregeltes subjektives Recht auf eine bestimmte Art der Mitteilung wäre, wenngleich nach dem Gesetzesentwurf sowieso der elektronischen Verfahrensabwicklung der Vorrang vor jeder anderen Art der Verfahrensführung gegeben wird, eine absolut notwendige Ergänzung zu § 17a AVG, der ja das Recht sehbehinderter und blinder Beteiligter auf Vorlesen oder elektronische Zurverfügungstellung von Akteninhalten vorsieht.

  • Nach dem Gesetzesentwurf sollen ferner Anbringen, die elektronisch unter Verwendung der Bürgerkarte eingebracht werden, künftig gebührenbefreit sein; werden Anbringen jedoch auf andere Weise, z. B. per Fax, per Post oder mündlich, bei der Behörde eingebracht, so sind allfällige Gebühren auch weiterhin zu entrichten. Diese Ungleichbehandlung soll nach den Erläuterungen vor allem dadurch gerechtfertigt sein, da durch solche elektronische Anbringen Verfahrensvereinfachungen und Kostensenkungen zu erwarten sind. Nach den Erläuterungen wird angemerkt, dass „es sachlich nicht nur gerechtfertigt, sondern sogar geboten scheint, einen Teil dieser Einsparungen an die Bürger/Unternehmen durch Gebührenbefreiung weiterzugeben, auch um sie zur vermehrten Verwendung dieses neuen Kommunikationsweges zu motivieren“.

    Es wird wohl nicht geleugnet werden können, dass es auch weiterhin eine Vielzahl von Personen geben wird, die die elektronischen Medien nicht nutzen können – insbesondere ältere Menschen oder so manche Menschen mit Behinderungen; diese eklatante Bevorzugung elektronischer Anbringen ist zumindest bedenklich, da in solchen Fällen eine Benachteiligung aus selbst nicht beeinflussbaren persönlichen Umständen, z. B. einer Behinderung oder des Alters, entstünde, die im Sinne des Benachteiligungsverbotes für behinderte Menschen in der Bundesverfassung sachlich kaum rechtfertigbar wäre.

Es bleibt also abzuwarten, ob diese Anmerkungen des Vereines Blickkontakt gerade im Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen nicht doch noch in dieses Gesetzesvorhaben Eingang finden werden.

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