Sonderschulen sind Monumente des unheilvollen Satzes: „Es gibt nicht integrationsfähige Schüler!“

Hörenswert war ein Vortrag von Roland Astl, der Gedanken wie - "Integration gelingt dort besser, wo die handelnden Personen der Überzeugung sind, dass Integration ein grundsätzliches Menschenrecht darstellt" - unmissverständlich klar darlegte.

Roland Astl
BIZEPS

Mit Sätzen wie diesen beeindruckte Roland Astl von der Sonderpädagogischen Beratungsstelle beim Bezirksschulrat Reutte die Anwesenden im Parlament in einem hervorragenden Vortrag beim Gleichstellungsdialog zum Thema Inklusion am 29. Juni 2010.

Von der Praxis

„Ich nehme an, ich erhielt diese Einladung u.a. auch deshalb, um von einer Praxis zu erzählen, in der wesentliche Forderungen, wie sie der unabhängige Monitoring-Ausschuss zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen in seiner Stellungnahme vom 10. Juni 2010 erhebt, seit vielen Jahren praktisch erprobt und exemplarisch umgesetzt wurden“, leitete Astl sein Statement ein.

Und mit der Vermutung lag er sicherlich richtig, denn eine seit nunmehr 25 Jahren laufende Schulentwicklung im Bezirk Reutte/Tirol ist derart überzeugend, dass mit Fug und Recht vom „Vorbild Reutte“ gesprochen werden kann, wenn es um Inklusion in Österreich geht.

Astl gliederte seine Aussagen zum Vortrag „Weiterentwicklung der schulischen Integration/Inklusion“ in vier Bereiche, denen er Stichworte zuordnete.

Stichwort 1: „Menschenrechte“

„Von Beginn an gab es bei den handelnden Personen vor Ort das gemeinsam geteilte Bewusstsein, dass das Eintreten für ein inklusives Bildungssystems eine Frage der Grundrechte ist, verbunden mit (gesellschafts-) politischem Handeln und den damit verbundenen Auseinandersetzungen“, blickte er zurück und berichtete von der ersten Integrationsklasse im Schuljahr 1985/86 im Rahmen eines Schulversuchs.

„Den Anstoß dazu gab ein Vater, der nicht bereit war, seinen Sohn in eine 100 km entfernte Sondereinrichtung bzw. in die damals voll ausgebaute Sonderschule in Reutte anzumelden“, erinnerte Astl und betonte: „Besonders hervorzuheben und für die Entwicklung vor Ort entscheidend ist die Tatsache, dass neben einer entstehenden Elternbewegung auch der Leiter der ehemaligen Sonderschule die Integrationsbemühungen entscheidend und konsequent vorangetrieben und begleitet hat, bis hin zur Auflösung seiner eigenen Schule.“

Astl leitet daraus ab: „Integration gelingt dort besser, wo die handelnden Personen der Überzeugung sind, dass Integration ein grundsätzliches Menschenrecht darstellt. Wenn dieser Paradigmenwechsel in den Köpfen stattgefunden hat, sind bereits die meisten Schwierigkeiten überwunden.“

Stichwort 2: „Der Integrationsfahrplan“

Doch grundlegende Veränderungen benötigen Zeit. „Im Laufe von 12 Jahren wurde im Bezirk Reutte die Bildung von Kindern mit Behinderungen Schritt für Schritt – aber konsequent – von einem System der vormals ausschließlichen Beschulung in der Sonderschule in ein System der vollständigen wohnortnahen Integration übergeführt“, berichtete der Vortragende, der ergänzte: „Damit verbunden war eine breit geführte gesellschaftspolitische Diskussion auf regionaler Ebene, verbunden mit zahlreichen Konflikten.“

Besonders wichtig sei der Grundsatz „Integration ist unteilbar“ und daher muss diese „für alle Menschen, unabhängig von Art oder Schwere einer etwaigen Beeinträchtigung oder der Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Klasse, ermöglicht werden“. Einfach ist das nicht und es provozierte einerseits heftigen Widerstand, markierte jedoch andererseits den Entwicklungspfad, hielt Astl fest.

„Ab dem Schuljahr 1985/86 kamen, mit einer Ausnahme, keine Kinder mehr an die Sonderschule“, berichtete er vom beeindruckenden Erfolg des Integrationsfahrplans in Reutte und ergänzte: „Eine große Anzahl von Kindern konnte zudem im Laufe der folgenden Jahre von der Sonderschule an die entsprechenden Volks- und Hauptschulen zurückgeführt werden.“

Das Ergebnis dieser konsequenten Arbeit wurde mit Ende des Schuljahres 1996/97 deutlich sichtbar. „Die letzten fünf Kinder verließen die damals noch einzige Sonderschule des Bezirkes“, so der Referent, der fast nebenbei anmerkte: „Die Sonderschule wurde stillgelegt.“ Aus dem Sonderpadagogischen Zentrum wurde die „Sonderpädagogische Beratungsstelle beim Bezirksschulrat Reutte“.

Was dies in der Praxis bedeutet, zeigte Astl anhand dieses Punktes: „Die Sonderpädagogische Beratungsstelle Reutte ist kein Zentrum für besondere Kinder, sondern ein Zentrum für besondere Kompetenzen und Professionen. Die Sonderpädagogische Beratungsstelle Reutte ist ein Pädagogisches Kompetenz- und Ressourcenzentrum.“ Die Beratungsstelle leistet „ambulante“ inklusionsunterstützende Dienste. „Die Pädagogen gehen zu den Kindern hin und nicht umgekehrt“, hielt er fest.

In den 90er Jahren „wurden bei der Integrationsgesetzgebung strategische Fehler gemacht“, auf die in zahlreichen Stellungnahmen bereits damals hingewiesen wurde, u.a. wurde den damaligen Sonderschulen die zusätzliche Aufgabe übertragen, Integrationsklassen in „bestmöglicher Weise“ zu unterstützen.

Diese Vorgabe „für Sonderpädagogische Zentren, sich zu Schulen ohne Schüler zu entwickeln, wird von der Institution Sonderschule nicht mitgetragen“, resümierte Astl und erläuterte: „Die Auflösungsperspektive wird als Existenzbedrohung erlebt und löst Reformblockaden aus“.

Sonderschulen werden sich nicht selbst auflösen. „Es ist illusorisch, von der Sonderschule die märtyrerhafte Selbstaufopferung zugunsten der Inklusionsreform zu erwarten. Die Sonderschulen tragen die Inklusionsreform auf jeweils unterschiedlichem Niveau nur bis zu jener kritischen Marke mit, an der die eigene Existenz auf dem Spiel steht“, zeigte er sich sicher.

Sonderschulen sind Monumente des unheilvollen Satzes: „Es gibt nicht integrationsfähige Schüler!“, zeigte er sich sicher.

Stichwort 3: Elternwunsch und Wahlfreiheit

Auch auf die im Rahmen der Integrationsgesetzgebung eingeführte Entscheidungsfreiheit für Eltern zwischen dem Besuch einer Integrationsklasse oder einer Sonderschule für ihre Kinder zu wählen, ging Astl in seinem Vortrag ein. Er berichtete anhand von Beispielen, welche Punkte Eltern bei der Entscheidung heranziehen.

Auch Aspekte wie Therapie und Betreuung werden abgewägt. „Und wenn optimale Unterstützung auch in inklusiven wohnortnahen Settings gewährleistet ist, geben Eltern dem den Vorzug“, berichtete er.

Stichwort 4: Reform der Pädagoginnen Ausbildung

Doch ganz so einfach sind die Lösungen nicht. „Diskriminierungen und Benachteiligungen werden allein durch die Schließung von Sonderschulen und die bloße Anwesenheit behinderter und nichtbehinderter Kinder in gleichen Klassenraum nicht beseitigt“, hielt er unmissverständlich fest.

Tiefgreifende Änderungen sind notwendig, denn „eine inklusionstaugliche Pädagogik betreibt einerseits keine Selektions- und Ausgrenzungspraxis und vermag es andererseits zu leisten, allen Kindern und SchülerInnen in heterogenen Gruppen und Klassen angemessene Erziehungs-, Bildungs- und Unterrichtsangebote zu machen“.

Es bedarf einer inklusionsorientierten LehrerInnenausbildung, forderte Astl und stellte klar: „Das bloße Zusatzstudium einzelner sonderpädagogischer Teilbereiche wird dem Anspruch auf volle Teilhabe behinderter Menschen in allen Lebensbereichen nicht gerecht.“

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