Freak-Radio

Medizinisches Modell versus Selbstbestimmung

Über Rahmenbedingungen und Engagement der Betroffenen (2. Teil des Freak-Radio Interviews von Gerhard Wagner mit Mag. Dorothea Brozek)

Gerhard Wagner: Sie haben das Pflegegeld jetzt schon als eher altmodisches Modell bezeichnet und das jetzt gegenübergestellt dem Projekt für Persönliche Assistenz auf dem Arbeitsplatz und einen moderneren Ansatz gezeigt. Ist dieser Ansatz jetzt insoferne zukunftsfähig, als dass man nun wegkommt von den „Göttern in weiß“, den medizinischen Experten, hin zu ExpertInnen in eigener Sache?

Wenn ja, dann daran anschließend eine grundsätzliche Frage: Wie groß ist die Aktivität von Menschen mit Behinderung derzeit, wie groß ist die Partizipation: Hat das abgenommen oder hat das zugenommen?

Immerhin haben damals bei der Einführung des Pflegegeldes nur die Betroffenen dafür gesorgt, dass das gekommen ist, durch einen großen Hungerstreik schon während der wichtigen Koalitionsverhandlungen zwischen SPÖ und ÖVP damals – wenn ich mich recht erinnere:

Es war jetzt ein Bündel an Fragen, die ursprüngliche Frage war die Orientierung weg von den Ärzten hin zu den ExpertInnen in eigener Sache.

Mag. Dorothea Brozek: Dieser Vergleich, „Götter in weiß“, als Symbol dieses Medizinischen Modells im Gegensatz zu den „ExpertInnen in eigener Sache“, eben Personen, die behindert sind, das ist der Paradigmenwechsel, der auch in der Behindertenpolitik langsam vollzogen wird, und der ganz wichtig ist für eine Teilhabe und Selbstbestimmung behinderter Menschen, behinderter Männer und Frauen in unserem Land: Also nicht ausgehend von Diagnosen, denn, was sagen denn Diagnosen über Menschen? Gar nichts! Diagnosen machen einen Stempel, Diagnosen sondern aus, Diagnosen reduzieren uns auf das, was wir nicht können. Es werden also Chancen und Möglichkeiten vorweg gar nicht gesehen, nur das, was nicht getan werden kann – also aufs Defizit reduziert.

Das ist das Medizinische Modell, das ist einfach altmodisch, das diskriminiert uns behinderte Menschen und das wollen wir nicht!

Die Selbstbestimmt-Leben-Bewegung und die Vertreter und Vertreterinnen dieser Bewegung fordern und sehen Behinderung im Sozialen Modell, im sozialen Kontext. Das heißt, es ist nicht grundsätzlich die Behinderung, die uns behindert, sondern es sind immer die Rahmenbedingungen, die letztlich zu einer Behinderung führen! Und diese sind von Menschen gemacht und veränderbar und deswegen so hochpolitisch.

Es gibt nicht ein bisschen Selbstbestimmung, nicht ein bisschen Diskriminierung, auch nicht ein bisschen weniger Diskriminierung. Wenn Vertreter der Politik und der Behörden wollen, dass behinderte Menschen inmitten der Gesellschaft selbstbestimmt leben, dann müssen sie auch Taten zeigen: Und dann müssen sie Rahmenbedingungen setzen, die uns das ermöglichen, mit allen Pflichten und Rechten!

Soweit zu diesen zwei Modellen. Die Rahmenbedingungen müssen dieses neue Modell auch wieder spiegeln.

Gerhard Wagner: Nun sind die Rahmenbedingungen die eine Sache und die Aktivität der Betroffenen die andere Sache. Wie sieht es denn damit aus?

Mag. Dorothea Brozek: Das ist eine sehr schwierige Frage: Grundsätzlich hat die Behindertenbewegung tatsächlich immer wieder sehr viel bewegt! Die Aktiven wünschen sich immer, dass noch mehr aktiv sind, ich glaube, da spreche ich für uns alle. Aber ich merke schon, dass sich immer weniger behinderte Menschen das gefallen lassen, was, noch vor zehn Jahren, sich andere gefallen lassen haben. Wenn ich mir die junge Generation ansehe, die Anfang 20-jährigen: Die werden sich sicher nicht so viel bieten lassen, wie die Generation davor und ich bin ganz hoffnungsfroh, dass die Bewegung immer stärker wird.

Auf der anderen Seite sind behinderte Menschen ja ein Teil der Gesellschaft und sind nicht abgekoppelt zu sehen. Da ist schon der Trend einer gewissen Politikverdrossenheit festzustellen: Dass einen das vielleicht doch nicht so sehr interessiert. Und Hauptsache, ich richte es mir, und Hauptsache, ich finde meine Lösung!

Also das spüre ich schon auch. Das ist nichts, was die Behindertenbewegung so spezifisch macht, sondern es ist ein Trend unserer Gesellschaft, hat mit der Individualisierung zu tun, auch mit der Ellbogengesellschaft. Diesen Trend gibt es halt leider auch. Gerade hier nützen das oft Behörden und Politik schamlos aus – schamlos!

Gerhard Wagner: Das bedeutet, dass man im Einzelfall planiert und Lösungen für die Öffentlichkeit findet, aber nicht im Großen? Heißt das, dass die Individualisierung zwar positive Folgen hat, als man sich nicht alles bieten lässt, aber auf der anderen Seite dazu führt, dass die Solidarität nicht mehr so groß ist?

Mag. Dorothea Brozek: Die Betroffenen, die auf den Tisch hauen können und sehr laut schreien: „Mit mir nicht!“, da werden dann Einzellösungen – und da sage ich schon auch: „Gott-sei-Dank!“ – ermöglicht, aber diese allgemeinen Rahmenbedingungen, die fehlen schon viel zu lange in vielen Bereichen.

Das meine ich mit „schamlos ausnützen“. Es ist auch ein bisschen etwas vom Prinzip: „Teile und Herrsche!“ Denn die, die sich nicht so gut auf die Beine stellen können und nicht ihre Anliegen formulieren können, ja, die können auch nicht am politischen Prozess teilnehmen und aufbegehren, wenn sie es nicht einmal für sich selbst tun können!

Und so wird die Bewegung geschwächt.

Teil 1: Über die Themen Gleichstellungsgesetz und Pflegegeld – lesen Sie hier

Teil 3: Über die Situation zur Persönlichen Assistenz in Wien – lesen Sie hier

Hier beginnt der Werbebereich Hier endet der Werbebereich
Hier beginnt der Werbebereich Hier endet der Werbebereich