Krüppel

Zunächst möchte ich auf den im ersten Moment vielleicht etwas schockierenden oder zumindest überraschenden Begriff "Krüppel" kurz eingehen.

Ursprünglich ein eher diskriminierender Begriff, ja ein Schimpfwort, haben ihn die Betroffenen vor einiger Zeit wiederentdeckt, um mit der provokanten Verwendung dieses Ausdrucks ihre Stellung in der Gesellschaft zu betonen.

Ein coming out hat im Jahr 1981, dem Internationalem Jahr der Behinderten begonnen. Die diskrete, aber auch bagatellisierende Bezeichnung der Behinderung wird von gewissen Gruppen der Behindertenbewegung bzw. Krüppelbewegung und in der Krüppel-Szene abgelehnt.

Immer wieder kann man hören: „Aber behindert sind wir doch alle irgendwie, ich kann auch nicht immer so wie ich will, wir sind alle eingeschränkt in unseren Möglichkeiten etc.“

Das mag stimmen, trifft aber nicht die Problematik einer tatsächlich erlebten z. B. körperlichen Behinderung. Der bewußt gewählte Ausdruck Krüppel soll das Zeichen einer neuen, selbstbewußten Generation Behinderter sein.

Nicht die Versuche zu beschönigen, sondern eine kritische Auseinandersetzung der Betroffenen selbst, mit ihrer Realität, haben zu dieser Form des Krüppelbewußtseins geführt.

Die Aneignung von ehemals diskriminierenden Begriffen durch Betroffene findet sich auch bei anderen Randgruppen der Gesellschaft. Die bekanntesten Beispiele sind sicher die Schwulen- und Lesbenbewegung und die neuen Tendenzen der Schwarzen in Nord-Amerika.

Die Erkenntnis, daß verschönende Bezeichnungen nichts an der Diskriminierung ändert, ist auch dort Anlaß, wieder zu den ursprünglichen Begriffen zurückzugreifen. (Z. B. verwenden Teile der Schwarzen wieder die Bezeichnung Neger oder auch Nigger, um die Distanz zu betonen.)

Wenn sich hier zwar bestimmte Parallelen und Ähnlichkeiten der verschiedenen Randgruppen festhalten lassen, so bestehen doch große Unterschiede, auf die nun genauer eingegangen werden soll.

Es gibt für alle sichtbare, freiwillig gewählte Merkmale: Das „Anderssein“ fällt sofort ins Auge und ruft meist Diskriminierung hervor. Das sich außer die Norm stellen, geschieht hier bewußt und freiwillig und ist z. B. ein Ausdruck für die Ablehnung des Establishments (wenn mir dieser Begriff aus den ´68ern´ erlaubt ist).

Wesentlich ist, daß diese Menschen gleichsam privates Anderssein in die Öffentlichkeit tragen, weil sonst der provokante Charakter nicht zum Tragen kommt. Jedoch der wildeste Punk kann theoretisch in kurzer Zeit zum biederen Banker (d. h. Bankangestellten) werden.

Nicht sofort sichtbare, unfreiwillige Merkmale vom Außenseitertum tragen, z. B. psychisch behinderte Menschen oder kommunikationsbehinderte (gehörlose, stumme) Personen. Beethovens Taubheit war vermutlich eine wesentliche Ursache seiner Isolation und Vereinsamung. Das „Anderssein“ wird hier erst bei Kontaktaufnahme und evtl. näherem Kennenlernen auffällig.

Die unmittelbare Reaktion der Öffentlichkeit bekommen jene Personen zu spüren, die sich durch sofort sichtbare, unfreiwillige Merkmale kraß von der Bevölkerung unterscheiden. Hier handelt es sich z. B. um sichtbar körperbehinderte, aber auch sichtbar geistig behinderte Menschen.

Nun ist Körperbehinderung nicht gleichzusetzen mit Krankheit. Auch wenn behinderte Menschen in der Öffentlichkeit öfter als krank angesehen bzw. angesprochen werden, gibt es klare Unterschiede zwischen Krankheit und Behindertsein. „Krankheit“ bewirkt oft eine Tendenz zur Verheimlichung und zu einem Rückzug.

Zu diesem kommt es nicht nur, um Ansteckung zu vermeiden und weil man sich vielleicht schlecht fühlt. Ein gewisses Schamgefühl hindert daran, im „maladen“ Zustand in die Öffentlichkeit zu treten, als unfit zu erscheinen, eine Schwäche zu zeigen. Ein Schamgefühl, daß ein Behinderter überwinden muß, will er am öffentlichen Leben teilhaben. Aufgrund meiner Behinderung muß ich mit Reaktionen meiner Umwelt rechnen.

Das offensichtliche Anderssein, Fremdsein löst eine Kette von Reaktionen aus. Welche Reaktionen sind nun in der Realität zu erwarten? Diese sind ähnlich wie bei allen auffälligen Menschen, egal ob es Schwarze, Obdachlose oder Behinderte sind. Eigentlich gibt es drei Kategorien der Reaktionen, die gleich unangenehm sind:

  • offene Aggressionen
  • angestarrt werden
  • ignoriert werden

Die ungezwungene Reaktionen von Kindern, die natürlich auch schauen, staunen, fragen, wird oft von peinlich berührten Eltern verhindert.

Zusätzlich zur realen Behinderung und der Reaktion der Mitmenschen darauf gibt es noch anderes, das behindert. Wenn auch schon oft zitiert und, so sollte man glauben, allen bekannt, sind nach wie vor die baulichen Barrieren ein zusätzliches Handicap.

Jeder Randstein, jede zu schmale Türe, die nicht zu benutzenden öffentlichen Verkehrsmittel (um hier nur einige Beispiele zu nennen) machen die Teilnahme am öffentlichen Leben zum teilweise unüberwindbaren Problem.

Die weitgehend barrierefreie gebaute Umwelt ist Grundvoraussetzung für ein Mindestmaß an Selbständigkeit. Das verstärkte Auftreten der Behinderten in der Öffentlichkeit wäre eine der Möglichkeiten, das Bewußtsein zu verändern, den „Schrecken“ des Andersartigen zu mildern.

Auch bei behinderten Menschen gibt es immer noch die Tendenz den „Makel“, die „Schande“ zu verbergen. Zum privaten Glück und Prestige des Bürgers gehört es, „gesunde“ Kinder zu haben. Wo dies nicht der Fall ist, ist oft die Versuchung nahe, diese von der Öffentlichkeit fernzuhalten.

Das Leben auch von aus der Norm fallenden Menschen zu akzeptieren und die Toleranz gegenüber allen Randgruppen zu erhöhen, sehe ich als ein erstrebenswertes Ziel.

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