Folge 10: „Natürlich, ethisch und fair“ – Kritische Anmerkungen zu neuen/alten Lifestyle-Trends

Rollend, rasant und rabiat durch Wien und den Rest der Welt

Symbolbild: Ronja Rollerbraut

„Natürlich, ethisch und fair“. Nein, das ist nicht (!) der Wahlspruch einer neuen Partei, die angesichts der bevorstehenden Nationalratswahlen im politischen Konkurrenzkampf mitmischen möchte.

Diese drei Worte beschreiben vielmehr eine gesellschaftspolitische Bewegung mit u.a. folgenden Schwerpunktthemen: biologische Landwirtschaft, Nachhaltigkeit, saubere/umweltschonende Energieformen, Tierrechte, Fairtrade, Bio-Kosmetik und vieles mehr. Ökothemen sind in. Unsere Gesellschaft befindet sich derzeit in einem Retrohype: die Rückbesinnung auf das „alte, gute und natürliche (Land-)leben“.

Mitunter ist diese „Rückbesinnung“ oftmals etwas naiv, verzerrt und Harmonie getränkt. Der Retro-Trend treibt m.E. gar seltsame Blüten: „Lederhosen“ und „Dirndl“ vom Hofer oder von Eduscho die komplette Ausstattung, um zukünftig die Tomaten selbst am eigenen Balkon anpflanzen und ernten (?) zu können. „Selbstversorgung“ ist schließlich wichtig schaut man auf die realen Umweltsünden, aber auch auf die Medien und die Werbung. Bücher und viele andere Produkte zu all diesen Themen finden reißenden Absatz.

Auf den ersten Blick kein wirklich behinderten-spezifisches Thema. Doch ein Weiterlesen lohnt sich!

Beispiel: Hast du heuer eigentlich schon veganes Eis geschleckt?

Die „vegane“ Lebensweise (vollständiger Verzicht auf tierische Lebensmittel & Produkte) hat in Österreich schon eine beachtliche Zahl von ca. 40.000 Anhängern. Auf Vor- und Nachteile dieser Lebensweise kann ich hier aber leider nicht eingehen.

Der Prozentsatz in der Bevölkerung, die sich „vegetarisch“ ernährt bzw. grundsätzlich auf „biologisch, gesunde, regionale“ Produkte achtet, ist um ein Vielfaches höher. Die Wirtschaft hat auf diese Trends auch prompt und breit reagiert. Jedoch blieb wieder einmal die Berücksichtigung aller Bevölkerungsgruppen auf der Strecke.

Beim Eis-Greissler (herkömmliche und vegane Eissorten „vom Lande“) im 1. Wiener Gemeindebezirk war ich als Rollstuhlfahrerin erst einmal. Und das im kalten Winter. Damit ich endlich „mitreden“ kann. Denn im Sommer steht nicht nur meist eine meterlange ungeduldige mitunter rücksichtslose Warteschlange vor dem Geschäft, das offene Lokal ist auch winzig klein und nur über eine Stufe betretbar.

Vor kurzem wollte ich mir dann Österreichs ersten veganen Supermarkt (Maran Vegan) im sechsten Bezirk anschauen. Und ich wurde ziemlich enttäuscht: eine Stufe versperrte mir den Weg. Eine Glocke für Rollstuhlfahrer gab es auch nicht. Sommer sei Dank: die Türe war offen. Und so konnte ich durch mein lautes Rufen die Aufmerksamkeit einer Mitarbeiterin auf mich lenken.

Die war dann auch grundsätzlich sehr freundlich und wollte mir „helfen“. Die Frage, ob sie eine mobile Rampe hätten, musste sie aber verneinen. Unverrichteter Dinge zog ich ab, aber erst nach einer spitzen Bemerkung zum Motto des Supermarktes, das dort auch an der Hausmauer prangte: „Leben und Leben lassen.“ Ich werde wieder kommen.

Meine Kritik als (behinderter) Mensch:

Grundsätzlich stehe ich all den „Öko-Themen“ durchaus interessiert und einigen ihrer Argumenten nicht (!) ablehnend gegenüber. Dennoch verspür(t)e ich bei vielem einen etwas bitteren Beigeschmack. Mehr als ein Bauchgefühl?!

Mangelnde Barrierefreiheit

Es gibt natürlich auch Angebote im „Bio-Bereich“, wo das Bewusstsein für Barrierefreiheit Einzug gehalten hat. Doch leider zeigt die Praxis, dass dies eher die Ausnahme als die Regel ist. Auch bin ich der Meinung, dass gerade verschiedene NGOs bzw. Initiativen und Bewegungen plakativ gesagt „zusammenhalten sollten“.

Gerade (frühere) Minderheiten oder Randgruppen sollten für Ungerechtigkeiten und Benachteiligungen besondere Sensibilität haben. Warum zum Beispiel der EZA-Laden in der Schwarzspanierstraße noch immer über keine Rampe verfügt, ist mir ein Rätsel.

Wer kann sich das leisten? Wer soll das bezahlen?

Die Produkte und Dienstleistungen im „Bio-Bereich“ sind grundsätzlich um einiges teurer. Zumindest dauerhaft viel zu teuer für viele Familien oder sozial benachteiligte Menschen. So kann sich mancher vielleicht noch den Fairtrade-Kaffee oder -Schokolade leisten, doch im ganzen Leben diese Gesinnung durchziehen? Urlaub im Bio-Hotel? Kleidung und Schuhe fair gehandelt? Vollständiger Verzicht auf Tierprodukte? Und schließlich ist die Krise ja auch noch nicht überstanden.

Deshalb sich vielleicht doch nur ab und zu Bio-Obst und -Gemüse leisten? Zumindest eine Streicheleinheit für die Seele. Und so bleibt eine konsequente Lebensweise nur ausgewählten Kreisen der Bevölkerung, die über das entsprechende „Kleingeld“ verfügen, vorbehalten. Ist „Bio“ der neue Luxus?

Und was ist eigentlich mit den vielen alten Menschen in Pflegeheimen? Oder mit den ebenfalls sehr vielen behinderten Menschen in betreuten Wohnformen bzw. in Heimen/großen Institutionen? Nicht nur, dass für sie z.B. gesunde Bio-Lebensmittel unerschwinglich bzw. grundsätzlich außer Reichweite sind. Vielmehr ist es eine traurige Tatsache, dass sie in den meisten Bereichen ihres Lebens nicht einmal eine Wahlfreiheit haben. Und erst recht nicht beim Essen und Trinken. Wirkt auf sie das Ganze dann nicht wie blanker Hohn?

Macht „Bio wirklich schön“?

Oder: Kann bzw. will sich die Welt jemals vegan ernähren oder sollen wir beim Vorschlag der UNO angesichts realer und zukünftiger Hunger- und Nahrungsmittelkatastrophen innehalten und uns vielleicht darauf einstellen, in naher Zukunft doch proteinreiche Insekten essen zu müssen?

Oder: Was macht ein Veganer, der eine Bluttransfusion braucht und nicht weiß, ob der Spender ebenfalls Veganer ist?

Oder: Wie gesund ist „Bio, Soja und Co“ wirklich? Und kommt es bei veganer oder vegetarischer Kost nicht doch zu Mangelerscheinungen und Langzeitfolgen?

Und: Wer prüft „Bio“ und „Öko“ eigentlich? Wer darf sich dann so nennen?

Menschenbild: Quo vadis?

Hinter vielen „Bio- und Ökothemen“ steht auch oft ein bestimmtes Menschenbild. Zentrale Werte sind: Natürlichkeit (was das auch immer heißen mag), Gesundheit, Leistungsfähigkeit, sportliche Ertüchtigung.

„Vital, agil und mobil“ bis in hohe Alter. Die antiquierte Einstellung „auch in der Natur überlebt nur der Stärkere“ schwingt mitunter mit und verrät aus welchem Eck diese Gesinnung kommt. Ja: Es kann einen Zusammenhang zwischen „Ökothemen“ und rechten Gedankengut geben. Die Gesellschaft befindet sich in einer Umbruchsituation – seien wir wachsam, welche Richtung sie einschlägt. Deshalb möchte ich das eingangs erwähnte Motto umformulieren:

  • Natürlich gibt es behindertes vielfältig-buntes Leben; und das ist auch gut so, natürlich gehören Altern und Tod zum Leben; und auch das ist gut so
  • Ethisch denken, diskutieren und handeln ist wichtig; wichtige ethische Lebensthemen müssen schon in der Schule einen fixen Platz haben
  • Fair-sein allen (!) Mitmenschen gegenüber, sollte selbstverständlich sein.

Bis bald, eure Ronja.

Übrigens: Ich selbst habe auf ein Auto immer freiwillig verzichtet, benütze als Rollstuhlfahrerin die Öffis und bin seit über 20 Jahren überzeugte Ovo-Lacto-Vegetarierin. Und erlauben Sie mir folgende Überspitzung: Fairtrade war mir schon ein Begriff, als so manch junger „Ökofuzzi“ von heute noch in den Windeln lag.

Hier beginnt der Werbebereich Hier endet der Werbebereich
Hier beginnt der Werbebereich Hier endet der Werbebereich